Mit so vielen Teilnehmern hatte Lisa nicht gerechnet. Die Demonstration verbuchte sie als beachtlichen Erfolg. Wie kaltes Gold erschien ihr dagegen die Reflexion der Sonnenstrahlen auf dem Sandstein des Münsteraner Rathauses. Mit einer unmerklichen Handbewegung wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Ihr leichtes Top bot den Striemen ihres Rucksacks keinen Widerstand. Sie drückten unangenehm auf der blanken Haut ihrer Schultern. Mitleidig sah sie zu ihrem Hund Geronimo herunter, der heftig hechelte und sich zwischen so vielen Leuten erkennbar unwohl fühlte.
»Komm«, sagte sie zu Geronimo. »Lass uns woanders hingehen, sonst treten sie dich platt.« Mit ausgestreckten Armen bahnte sie sich einen Weg aus der Masse der Demonstranten zu den gegenüberliegenden Häusern. Im Schatten der für Münster so typischen Bogengänge blieben sie stehen.
Sie lehnte sich an eine der Schaufensterscheiben und betrachtete die Menge. Gewiss, sie hatten eine stattliche Teilnehmerzahl mobilisieren können. Doch aus der Distanz heraus sah sie die Teilnahmslosigkeit der Passanten, die gleichgültig die Demonstranten umschifften. Ein älteres Pärchen, das dicht an ihr vorbei lief, murrte sogar, weil es wegen der Veranstaltung die Straßenseite wechseln musste.
Die Megafone schmetterten die Forderungen der Demonstranten über den Prinzipalmarkt. »Naturcenter killt Natur!«, hallte es immer wieder über den Prinzipalmarkt. Buhrufe und ein Pfeifkonzert ließen Lisa aufmerksam werden – es tat sich etwas. Auf Zehenspitzen konnte sie erkennen, wie jemand die Stufen zum Rathauseingang emporstieg. Wie zum Hohn leuchtete die Sonne den meist im Schatten darbenden Bogengang davor aus. Selbst die massiven Holztüren wirkten nicht Respekt einflößend auf die vor ihnen demonstrierende Menschenmenge.
Als sie den Bürgermeister erkannte, gab es für Lisa kein Halten mehr. »Mach dich weg, du Schwein«, schrie sie ihm lauthals entgegen, sodass sie beinahe die Megafone übertönte, während sich ihre Hände zu Fäusten ballten.
Um Ruhe anzumahnen, wiesen die ausgestreckten, flachen Hände des Bürgermeisters immer wieder nach unten. »Liebe Bürger! Mit mir als Bürgermeist…« Ein Farbbeutel traf ihn frontal auf die Brust.
Mit Freudengeheul und grellem Pfeifkonzert jubelten die Menschen, als er die Rathausstufen wieder hinunter stieg. »Der ist so wütend, man könnte meinen, dass er die rote Farbe ins Gesicht bekommen hat«, hörte sie jemanden freudig von sich geben. Es war ihr eine Genugtuung. Zu gerne hätte sie selbst den Farbbeutel geworfen. Doch der Farbbeutel war genau ihr Stichwort.
Das war der perfekte Moment. Alle starrten zum Rathaus und beobachteten das Geschehen. Sie holte den Rucksack hervor und griff nach der Farbsprühdose, die sie bereitliegend platziert hatte. »Sitz, bleib!«, rief sie Geronimo mit ausgestrecktem Zeigefinger zu und verschwand augenblicklich. Mit einem kurzen Blick zurück vergewisserte sie sich, ob er wirklich sitzen blieb.
Sie versuchte, unauffällig zu wirken, und warf immer mal wieder einen Blick in die Schaufensterscheiben, während sie sich in Richtung des Domplatzes bewegte. Hier beim Bankhaus Sengen, direkt an der Ecke zum Domplatz, lichtete sich die Menschenmenge. Protzige Limousinen parkten direkt an der Straße – als könnte ihnen niemand etwas anhaben.
Bedächtig drehte Lisa ihren Kopf und checkte die Lage. Jetzt oder nie. Beherzt ging sie in die Hocke. Mit ein paar flotten Handbewegungen zauberte sie Dollar- und Eurozeichen auf die Autotüren.
Zügig verließ sie ihren Tatort. Eine Gruppe Demonstranten hatte dennoch mitbekommen, was sie getrieben hatte. Achtungsvoll hoben sie den Daumen, um ihren Respekt zu bekunden. Ohne Umwege eilte sie zum Rathaus zurück.
Geronimo rannte freudig auf Lisa zu, als sie fast bei ihm war. Sie bückte sich zu ihm hinunter und ließ sich ihren Hals lecken. »Brav, mein Lieber, brav.« Sie drehte leicht ihren Kopf und blickte zurück, um sich zu vergewissern, dass niemand sonst sie bemerkt hatte. »Alles okay, Geronimo«, sagte sie und kraulte liebevoll sein helles Fell. »Alles okay!«
Sie lenkte die Blicke der umherstehenden Demonstranten auf sich, als plötzlich, viel zu laut, ihr Handy ihre Lieblingsmelodie trillerte und das Bild ihres Freundes anzeigte. Sie verweilte einen Moment bei dem Anblick. Sie liebte die Aufnahme. An dem Tag, als das Bild entstand, hatten sie sich kennengelernt. Der Wind hatte seine mittellangen, braunen Haare nach hinten geweht. Er hatte bereits damals einen Dreitagebart, den sie ihm bis heute nicht hatte ausreden können.
»Hi, Schatz«, sagte sie. »Bist du noch an der Uni?«
»Nein, ich bin unterwegs zu dir. Ich bin gleich da. Sind schon viele Leute bei der Demo?«
»Ja, sie ist ein voller Erfolg!«, antwortete sie nicht ohne Stolz.
Blaulicht spiegelte sich in den Schaufensterscheiben und ließ ihren Atem stocken. Ihr Kopf fuhr blitzschnell herum. Ein paar Leute winkten den Polizisten aufgeregt zu. Ihre Sprühaktion war kein Geheimnis mehr.
»Wo seid ihr?«, fragte Ryan. »Soll ich zum Rathaus kommen?«
»Nein«, sagte sie zögerlich mit Blick auf das Blaulicht. »Hier ist es zu stressig. Wir treffen uns am Stadthaus.«
»Okay, bis gleich.«
»Komm, Geronimo! Unsere Arbeit ist hier erledigt. Lass uns gehen.« Sie flüchtete unauffällig vor der Polizei und drängte sich an der Menschenmenge vorbei in die Rathausgasse.
Geronimo drehte sich zu Lisa um, die plötzlich stehen geblieben war. Sein Kopf legte sich zur Seite, sodass man ihm die Frage nach dem Warum direkt ansah.
Auf der Rückseite des Rathauses standen mehrere Polizeifahrzeuge. Sie überlegte, ob sie nicht besser wieder zurückgehen sollte. Was soll’s, dachte sie. Ich gehe ja nur mit meinem Hund spazieren. Sie bog links ab, um nicht zu nahe an den Polizisten vorbei zu müssen. Unbehelligt setzte sie ihren Weg fort.
»Stopp!«, schrie sie und fiel fast zu Boden, um Geronimos Halsband zu fassen. Mit einem Ruck zog sie ihn an sich, seine Vorderpfötchen wirbelten in der Luft umher. Viel zu schnell kam ein dicker Benz auf sie zugefahren. Ohne sie zu beachten, fuhr der Wagen mit quietschenden Reifen durch die Kurve die Einfahrt zur Tiefgarage hinunter.
Sie wünschte sich einen Stein zum Werfen. Sie hatte ihn sehr wohl erkannt, dieses Arschloch von Bürgermeister. »Rücksichtsloses Schwein!«, schrie sie ihm hinterher. Er hatte ihren Eltern mit Enteignung gedroht, wenn sie sich weiterhin weigern würden, ihr Grundstück der Stadt zu verkaufen.
Sie stünden dem Fortschritt entgegen und würden viele Arbeitsplätze verhindern, hatte er sie zu belehren versucht.
»Das ist Erpressung!«, hatte ihr Vater lauthals geantwortet und ihn rausgeschmissen.
Fast automatisch griff sie in ihren Rucksack und holte die Sprühdose hervor. »Geronimo bleibt fein hier«, sagte sie. »Sitz bleib!«, rief sie ihm wie immer mit erhobenem Zeigefinger zu. An der Mauer, die die Einfahrt zur Tiefgarage umfasste, im Schatten unter einem Baum ließ sie ihn zurück. Zügig lief sie die Einfahrt hinunter, den Blick zum Boden gerichtet, damit die Leute oben im Stadthaus sie von ihren Bürofenstern aus nicht erkennen konnten. Als sie das hochgezogene Gittertor erreichte, drückte sie sich an die Betonwand und verlangsamte ihren Gang, um vorsichtig die Lage in der Tiefgarage auszukundschaften.
Abrupt hielt sie an, als sie den Bürgermeister erkannte, der sich vor seinem Wagen mit einem älteren Mann unterhielt. Das Fluchen des Bürgermeisters hallte durch die Tiefgarage. Immer wieder strich er über sein Hemd – ein vergeblicher Versuch, die Farbe abzuwischen.
Geduckt, im Schutz der Betonsäulen schlich sie zwischen den parkenden Autos an die beiden heran. Sie wollte kurz warten, bis die beiden Männer durch die Parkhaustür nach oben zu den Büros verschwinden würden. Die Farbsprühdose hielt sie einsatzbereit in ihrer Hand.
»Naturcenter«, hörte sie aus den Gesprächsfetzen heraus. Sie presste ihre Lippen zusammen. Dieses Thema war für sie alles beherrschend geworden. Jetzt musste sie unbedingt näher heran, ihre Neugierde war geweckt. Ein als Naturcenter geplantes Einkaufscenter wollte die Stadt bauen lassen. Dafür sollte der Reiterhof ihrer Eltern dran glauben. Die Sprühdose zwischen die Beine geklemmt kramte sie vorsichtig ihr Handy hervor und schaltete die Videofunktion ein. Auf den Knien kroch sie an die beiden heran. Mit der einen Hand umklammerte sie die Sprühdose, in der anderen hielt sie das Handy. Sie hoffte, wenigstens den Ton der beiden Männer festhalten zu können. Es war so verdammt ruhig hier unten, dennoch konnte sie die beiden nicht klar verstehen.
Der alte Mann redete mit gedämpfter Stimme. Lisa konnte ihn atmen hören. Das Reden schien ihn anzustrengen.
»Hast du den Rat endlich auf deiner Seite?«, fragte der alte Mann mit einem drohenden Unterton.
Er hatte eine unsympathische Stimme. Leise und unbarmherzig. Wer konnte so mit dem Bürgermeister reden? Wer war der Typ? Sie versuchte, einen Blick auf die beiden zu erhaschen.
»Vater«, antwortete der Bürgermeister genervt. »Ich habe alles im Griff. Sorge du nur dafür, dass das Gutachten deutliche Worte findet.«
Ihr ausgestreckter Arm begann zu erlahmen. Sie spürte ein leichtes Zittern aufkommen, aber auf keinen Fall durfte sie ihren Arm bewegen und die Handyaufnahme gefährden. Jetzt hatte sie ihn. Endlich würde es dem korrupten Dreckschwein an den Kragen gehen. Sie hielt das Handy fest zwischen ihren Fingern geklemmt.
* * *
Vor dem Stadthaus, im Schatten der Schaufensterarkaden eines Kaufhauses, wartete Ryan auf Lisa. Von der Hitze gezeichnet schleppten sich die Leute die Straße entlang, die meisten sichtlich bemüht, im Schatten zu laufen.
Ein Polizeiwagen fuhr die Einkaufsstraße vor ihm entlang und bog hinter dem Stadthaus ein. Gelangweilt folgte er dem Wagen bis zur Abzweigung, um zu sehen, wohin er fuhr. Ist bestimmt alles wegen der Demo, dachte Ryan.
Als er den Platz hinter dem Stadthaus überblicken konnte, sah er einen Hund an der Einfahrt zur Tiefgarage des Stadthauses sitzen. Sofort erkannte er Geronimo. Dann kann Lisa ja nicht weit sein, dachte er und lief zügig auf ihn zu. Ein paar Leute drehten sich um, als sie das Gebell von Geronimo hörten, der freudig mit dem Schwanz wedelte und Ryan ansprang, als er ihn erkannt hatte.
»Hallo, Geronimo«, sagte er und durfte gar nicht aufhören, ihn zu streicheln.
»Come on, mein Freund, ja, lass dich streicheln, du alter Racker. Wo ist denn dein Frauchen? Hat sie dich einfach ausgesetzt? Du armer, armer Hund. Hat dein Frauchen dich verlassen!«
Er nahm sein Handy hervor und tippte ein paar Mal auf das Display. »Wollen wir doch mal sehen, wo sich dein Frauchen herumtreibt.«
* * *
Als wäre ein Blitz in ihr Handy gefahren, zuckte Lisa zusammen. Sie drückte ihr Handy verzweifelt an sich, als ob ihr Lieblingsklingelton dadurch verstummen würde.
»Was zum Teufel ist hier los?«, fragte der Bürgermeister.
Sie blickte über die Kühlerhaube des Wagens, hinter dem sie sich versteckt hatte, zu den beiden Männern hinüber, die sie überrascht anstarrten. Sie kamen auf sie zugelaufen. Pfeilschnell schoss sie aus ihrer Hocke empor. Böse schaute sie ihr Handy an, das den Klingelton gnadenlos weiter abspielte. Erst jetzt befreite sie sich aus ihrer Schockstarre und rannte, was das Zeug hielt dem Ausgang entgegen.
Als sie endlich die Steigung der Ausfahrt erreichte und das Tageslicht wieder die Hoheit übernahm, sah sie oben Ryan mit Geronimo stehen. Er hielt sein Handy noch am Ohr.
Schon von Weitem warnte sie ihn. »Lauf! Lauf schnell weg!«
»Was ist los?«, rief er.
Geronimo lief ihr freudig entgegen.
»Weg hier!«, rief sie Ryan zu, als sie endlich bei ihm war. Sie packte seinen Arm. »Geronimo, komm!«, rief sie und rannte los, mit Ryan im Schlepptau. Geronimo folgte ihr. »Ab!«, schrie sie ihn an, als er sie aufgeregt ansprang.
»Ab!«, rief sie erneut und wehrte ihn mit ihrer Hand ab. »Scheiße!«, fluchte sie, als die Spraydose zu Boden fiel.
Das Scheppern der Dose ließ einen der beiden Polizisten aufschauen, die gelangweilt an ihrem Wagen lehnten. Fast wäre Lisa in sie hinein gelaufen.
Mehr Bullen als Demonstranten, dachte sie. Mit einem Haken versuchte sie, den Polizisten auszuweichen. »Folge mir!«, rief sie Ryan zu.
Er rannte etwas planlos hinter ihr her. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, wie er versuchte, ihr zu folgen. Der Radfahrer, der soeben losfahren wollte, kam für ihn jedoch zu unerwartet. Die Rolle über den Gepäckträger wirkte professionell, der Aufschlag am Boden eher nicht.
Mit einem Ruck zog der Polizist ihn hoch. Lisa zögerte nur einen Augenblick zu lange, als sie überlegte, wie sie ihren Freund helfen könnte.
»Halt, Fräulein!«, rief der Polizist und hielt ihren Arm fest, sodass sie den Polizisten mit ihrem Schwung beinahe zu Boden riss.
»Lass mich los!«, rief Ryan. »Ich habe nichts getan. Das ist willkürliche Polizei…«
»Aaaahhhh, Hiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiilfeeeeeeeeeeeeee!« Lisas markiges Geschrei ließ ihn verstummen.
Lisas wild um sich schlagende Arme waren kaum zu bändigen. »Drecksbulle, Arschloch, Kapitalistenhelfer, …« Sie kannte so viele dieser Wörter, sie hätte nie Ruhe gegeben, würde sie nicht plötzlich mit ihrem Gesicht im hellen Sand eines Spielplatzes liegen.
»Friss Dreck, du Miststück. Bist du jetzt still!« Wie ein Sieger posierte der Polizist auf Lisas Rücken. Nur ein winziger Moment war ihm dafür vergönnt, bis Geronimo dem ein abruptes Ende bereitete. »Aaaaaaaaaaahhhh!«, der Polizist schrie lauter, als Lisa es zuvor vermochte, nachdem sich Geronimos Zähne in seinen Arm festgebissen hatten.
Ryan traute seinen Augen kaum. Seine Freundin hatte nichts getan und dieser kostümierte Rambo behandelte sie wie eine Schwerverbrecherin. Eine kurze Umdrehung seines Körpers, nur ein kleines bisschen holte er pfeilschnell mit seinem Arm aus. Der kurze Kontakt mit seinem Ellenbogen ließ den Polizisten zu Boden gleiten wie einen nassen Sack.
Fast fliegend legte Ryan das letzte Stück zurück, bis die volle Wucht seines Körpers den Polizisten auf Lisa zur Seite schleuderte. Geronimo hatte von dem Polizisten abgelassen und bellte mit seinem Geschrei um die Wette.
»So, jetzt frisst du Dreck!« Ryan empfand Genugtuung, als er den Polizisten ebenfalls mit dem Gesicht in den Sand drückte.
»Pass auf!«, schrie Lisa, doch es war zu spät. Ryan hörte das Klicken der Handschellen, noch ehe er begreifen konnte, was passiert war.
Irgendetwas riss seinen Arm nach oben. Sein Körper folgte ihm schmerzvoll. Ein Schlag gegen seinen Rücken ließ ihn mit Wucht vor den Polizeiwagen prallen. Lisa folgte ihm nur Sekundenbruchteile später.
Mit brachialer Gewalt drückte der Polizist sie beide an den Wagen.
»Hotte!«, rief der Polizist. »Bist du okay?«
»Verdammt ja, ich bin okay!« Hotte schnaufte, als er sich hochrappelte. Geronimo hatte aufgehört zu bellen. Sein Knurren hörte sich allerdings weitaus gefährlicher als sein Gebell an. Hottes Hand griff zu seiner Pistole.
»Bist du verrückt, du kannst doch hier nicht rumballern!«, schrie sein Kollege. »Komm hierher und hilf mir gefälligst.«
Ryan blickte so gut er konnte über die Schulter nach hinten. Hotte steuerte direkt auf sie zu.
»Dreht euch um!«, befahl Hotte schroff und riss Ryan und Lisa zu sich.
Lisa achtete nur kurz auf Hotte. Sie war über etwas ganz anderes beunruhigt. Der Vater des Bürgermeisters hielt die Szene mit seinem Handy fest.
»Da, jetzt frisst du den Dreck.« Hotte verteilte den feinen weißen Sand mit kräftigem Druck auf Ryans Mund.
»Na, hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragte Hotte grinsend.
»Du Schwein!«, schrie Lisa ihn an.
Ryan spuckte mehrmals.
Mit einem Schwung holte Lisa aus und ihr Fuß landete mitten in Hottes Männlichkeit. Weit öffnete sich Hottes Mund zu einem stummen Schrei, während er langsam mit seinen Händen im Schritt zu Boden ging.
»Na, hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragte Lisa.
Ryan blickte Lisa überrascht an. Sie lächelte freudig, wenn nicht sogar stolz.
»Aua!«, schrien sie beide, als jemand ihre Köpfe zusammenknallte. Der andere Polizist riss die Autotür auf. Mit einem Schwung verfrachtete er die beiden auf den Rücksitz.
»Bleibt ja sitzen, sonst lernt ihr mich kennen«, zischte der Polizist und knallte die Autotür zu.
»Hotte, was ist mit dir?«, fragte er und beugte sich zu seinem Kollegen herunter.
Ryan zog die Kelle hervor, die auf dem Rücksitz lag und jetzt schmerzte, weil er darauf gelandet war. Gleichgültig schmiss er sie zur Seite. Er hob seine mit Handschellen versilberte Hand auf und ab. Wortlos sah Lisa zu, wie ihre Hand dem Auf und Ab folgte. Sein Blick pendelte zwischen den Handschellen und Lisa.
»Ich fasse es nicht«, sagte er.
»Was?«
Er zeigte nach draußen, zu den Polizisten.
»Reflex«, sagte sie. »Das war eine Reflexreaktion.«
Er schüttelte den Kopf.
Eher beiläufig sah Lisa zum Fenster hinaus. Der Polizist beugte sich über seinen Kollegen. Unweit davon sah sie Geronimo. Er saß einfach nur da und schaute zu dem Wagen, in dem sie jetzt saßen.
»Geronimo!«, rief sie und mit einem sportlichen Schwung, der seinesgleichen suchte, hangelte sie sich zwischen den Kopfstützen hindurch auf den Fahrersitz. Ryans Hand schmerzte, als sie mit nach vorne gerissen wurde.
»Schwing deinen süßen Arsch nach vorne. Los! Mach schon!«
Mit einem Ruck zog sie ihre an Ryan gefesselte Hand in Richtung Zündschlüssel. »Aua!«, schrie er und beugte sich vom Rücksitz aus so weit nach vorne, wie er konnte.
Der Motor heulte laut auf, die Reifen quietschten, als sich der Wagen in Bewegung setzte. Nur kurz darauf bremste er wieder ab. Lisa riss die Fahrertür auf.
»Geronimo!«, rief sie. Im Außenspiegel sah sie, wie der Polizist angerannt kam.
Mit einem Satz war Geronimo im Wagen. Sie drückte das Gaspedal voll durch, sodass die Tür fast von selbst wieder zu fiel. Ein kräftiges Pochen auf der Heckscheibe ließ sie nach hinten schauen. Der Polizist schrie irgendetwas, das sie nicht verstehen konnten. Sie gab Gas.
»Der spricht in sein Funkgerät«, sagte Ryan.
»Ja«, sagte sie. »Und der Bürgermeisterclan filmt uns.«
* * *
»Kennst du die?«, fragte Hermann August von Sengen zu Bachrum seinen Sohn.
»Du kannst vielleicht fragen, Vater. Nein, ich kenne sie nicht. Wahrscheinlich gehören sie zu den verrückten Demonstranten da draußen.«
Gisbert August von Sengen zu Bachrum ging ein paar Schritte auf die Polizisten zu.
»Halt!«, brüllte sein Vater mit seiner leisen, fast heiseren Stimme, die jedoch nicht ihre Wirkung verfehlte.
Wie festgeklebt blieb Gisbert stehen.
»Wo willst du hin?«, fragte sein Vater.
»Ich bin der Oberbürgermeister. Ich sollte den Polizisten helfen. Man erwartet von einem Oberbürgermeister so etwas.«
»Was willst du ihnen sagen?«
»Na ja, was geschehen ist natürlich.«
»Oh, mein Sohn, wenn du doch etwas mehr nach mir geraten wärest. Du willst der Polizei sagen, dass eine junge Frau unser Gespräch belauscht, ja vielleicht sogar auf ihrem Handy verewigt hat?«
Gisbert schaute verlegen zu Boden. Wieder einmal hatte sein Vater recht. Er hasste ihn dafür.
»Was glaubst du, wie lange du hier noch den Bürgermeister spielen darfst, wenn irgendetwas von dem Gutachten heraus kommt? Ein Gerücht würde ausreichen und du kannst deine alberne Bürgermeisterkette an den Nagel hängen.«
»Soll ich vielleicht einfach abhauen? Es haben mich hier bestimmt ein paar Leute gesehen.«
Sein Vater zeigte auf die Polizisten. »Gehe zu ihnen, biete ihnen deine Hilfe an. Nur gesehen hast du nichts und du weißt natürlich von gar nichts.« Er schubste ihn fort. »Jetzt lauf schon.«
»Aber wenn die beiden zur Zeitung gehen oder sonst jemandem davon erzählen? Vielleicht hat sie ja auch gar nichts verstanden?« Gisbert bekam Angst.
»Ich kümmere mich schon. Nun geh endlich.«
Er schaute seinem Sohn hinterher. »Schwachkopf«, sagte er gewohnt leise, während er sein Handy nahm und wählte.
»Grachter«, meldete sich eine Stimme kurz.
»Wir müssen uns treffen, sofort.«
»In Ihrer Bank?«
»Nein, im Clubhaus.«
* * *
»Fahr langsam«, schrie Ryan. »Das ist eine Einkaufsstraße, verdammt. Wo willst du überhaupt hin?«
»Ab, aus, aus!«, schrie Ryan Geronimo an, der auf dem Beifahrersitz saß. Geronimo hatte seine Freude daran, ihm so nahe zu sein. Er leckte ihm sein Gesicht ab, wo immer er konnte, als lägen sie gemütlich am Strand.
»Fahr hier ab!«, rief Ryan. »Du willst doch nicht etwa weiter durch die Einkaufsstraße fahren?« Er atmete erleichtert auf, als sie abbog.
»Achtung! Achtung! Soeben wurde ein Polizeifahrzeug entwendet.« Das Funkgerät im Polizeiwagen knisterte wie eine alte Schallplatte aus dem Krieg. »Die beiden Täter, ein junges Pärchen, sind mit einem Dienstfahrzeug vom Stadthaus geflüchtet. Das Kennzeichen des Wagens lautet NRW 5-0216. Es ist Vorsicht geboten. Die Täter sind äußerst brutal. Sie sind ungefähr 25 Jahre alt. Es liegt bislang nur eine Täterbeschreibung der Frau vor. Sie hat blonde lange Haare und eine große Oberweite.«
»Hast du das gehört!«, rief Lisa wütend. »Große Oberweite haben die gesagt. Die Polizisten haben sich nur meine Titten angeschaut. Ich fasse es nicht. Sie können mich nicht einmal beschreiben. Das ist doch keine Täterbeschreibung, das ist peinlich.«
»Was machst du …?«, fragte Ryan, aber der Rest ging in dem Lärm der Sirene des Blaulichtes unter, das Lisa soeben eingeschaltet hatte.
»Wo soll ich dich hinbringen?«, fragte Lisa kess.
»Willst du mich verarschen? Lass uns hier irgendwo anhalten und abhauen. Du hast doch gehört, sie suchen bereits nach uns … Halt an! Da ist rot!« Ryan schrie, um sich bei dem Getöse vom Dach Gehör zu verschaffen.
»Blaulicht«, erwidert Lisa und zeigte mit dem Finger zum Dach.
Geronimo fühlte sich von der Sirene motiviert und stimmte in ein Wolfsgeheul ein.
»Da, hör!«, schrie Ryan. »Das ist nicht nur unser Blaulicht. Sie sind uns auf den Fersen. Oh Gott, das ist alles so sinnlos. Die kriegen uns sowieso. Schon mal was von DNA und Fingerabdrücken gehört?«
Geronimo rutschte nach vorne in den Fußraum, als Lisa vor der Unterführung des Hauptbahnhofes abrupt bremste. Sie stieg aus und zog Ryan an ihrem Arm hinter sich her. Geronimo folgte Lisa dicht an ihrer Seite.
»Wie sollen die uns kriegen?«, fragte Lisa, während sie in den Bahnhof rannten. »Glaubst du, die finden auch meine Tittenabdrücke im Wagen?«
* * *
Über eine Stunde saßen sie nun im Prütt-Café in der Nähe des Bahnhofs. Sie hatten soeben den Bahnhof auf der Rückseite verlassen, als bereits die ersten Polizeifahrzeuge herangerast kamen. Ryan hatte gesehen, wie ein paar Polizisten in den Bahnhof hinein rannten.
Mehrere Male fuhren ihre blau-weißen Fahrzeuge direkt am Prütt-Café vorbei, aber eben nur vorbei. Hier fühlten sie sich sicher. Vorsichtshalber wählten sie einen Tisch im hinteren Ladenbereich.
»Magst du deine Pizza nicht mehr?«, fragte Lisa.
Ohne eine Antwort abzuwarten, fütterte sie Geronimo damit.
»Danke«, sagte Lisa.
»Schon gut, ich habe keinen Hunger«, antwortete Ryan.
»Das meine ich nicht. Ich meine danke, dass du mir geholfen hast, dass du mir beigestanden hast.«
»Na ja, eine große Hilfe war ich nicht. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätten die Bullen dich wahrscheinlich gar nicht erst geschnappt.«
»Ja, aber du hast mir geholfen, ohne zu überlegen. Du hast meinetwegen einen Polizisten angegriffen. Ich konnte mich auf dich verlassen. Darauf kommt es an und dafür danke ich dir.«
»Na ja, ich bin wohl eher zufällig da mit reingerutscht, oder?« Er verstand nicht, was seine Freundin ihm sagen wollte.
»Ja, vielleicht«, erwiderte sie. »Aber ich kann mich auf dich verlassen, wenn es drauf ankommt, und das ist für mich die Hauptsache. Egal, ob zufällig oder mit Absicht, ob ich etwas richtig mache oder ob ich im Unrecht bin, ich kann mich auf dich verlassen. Das fühle ich.«
Unter dem Tisch drückte sie seine Hand, mit der sie immer noch an den Handschellen verbunden waren. »Versprich mir, dass meine Gefühle sich nicht irren, immer für mich da zu sein, wenn ich dich brauche.« Sie schaute ihm tief in die Augen. Intensiv haftete ihr Blick an ihm.
Er erwiderte ihren Händedruck und sah sie sprachlos an, fand keine passenden Worte, um ihr zu antworten. Zu überraschend wurde er von ihrem Gefühlsausbruch regelrecht überwältigt. Sie war so temperamentvoll, so dynamisch. Eben flüchtete sie in einem Polizeiwagen und im nächsten Moment saß sie seelenruhig mit ihm im Café und sinnierte über die Tiefe ihrer Beziehung.
Er liebte sie so sehr und würde alles für sie tun. Das sagte man so, aber wie zeigte man es jemandem?
Das Sprechen fiel ihm schwer. »Ich verspreche es, ich werde für dich da sein, wann immer du mich brauchst, bei meinem Leben. Ich schwöre es.«
Ihre grünen Augen bahnten sich den Weg in seine Seele. Seine Lippen suchten die ihren und formten sich zu einem Kuss. Sein Herz raste. Er wusste, dass dies der Moment war, der sie für den Rest ihres Lebens verbinden würde. Nicht unbedingt der Kuss, aber der Moment davor. Er spürte die Enge in seinem Herzen, das plötzlich von ihrer Liebe geflutet wurde. Sein Magen zog sich zusammen. Seine Härchen auf den Armen richteten sich elektrisiert auf, als sie sich nach dem Kuss zurücklehnte.
Er schloss seine Augen. Diesen Moment wollte er speichern, nie wollte er ihn vergessen. Ihre blonden Haare, deren Wellen bei jeder ihrer Bewegungen sanft federten wie im Wind. Die Ohrringe, die mit ihr um die Wette strahlten, wenn sie ihr Haar nach hinten legte. Ihr rotes Top, das ihre makellose von der Sonne gebräunte Haut zum Besten gab. Die Freude in ihrem Gesicht, die sein Herz so berührte.
»Hey, Ryan, träumst du?«, fragte sie ihn.
»Nein nein, ich überlege nur gerade, ob ich das auch beweisen muss, dass ich immer für dich da sein werde oder …«
»Pssst«, sagte sie und drückte ihren Zeigefinger auf seinen Mund. »Sei einfach nur da, wenn ich dich brauche.«
* * *
Werner Grachter wartete im Empfangsraum, der einzige Ort neben dem angrenzenden Speisesaal, in dem Leute wie er sich aufhalten durften. Hier waren die Adeligen unter sich. Nur auserlesene Diener und Besucher wie er durften diese Gemäuer von innen sehen. Seit 1750 traf sich hier der reiche Adel – und all die Jahre über hatten sie Leute wie ihn gebraucht. Er sah sich als das Rückgrat des Adels, nur wollten sie das nicht wahrhaben.
»Ein Whisky?« Hölzern, ein Tablett platt an seinen roten Frack gedrückt, stand der Diener vor dem Besuchertisch, an dem Grachter es sich gemütlich gemacht hatte.
»Mann, Mann, wo haben Sie eigentlich Ihren Job gelernt? Sie können doch in so einem Haus niemandem einen Whisky anbieten.«
Ohne eine Miene zu verziehen, stand der Frackträger stocksteif mit erhobenem Haupt vor ihm.
Grachter schüttelte den Kopf. »Darf ich Ihnen einen Single Malt, vielleicht einen Scotch bringen. Oder lieber einen amerikanischen Straight? So in der Art, das passt zumindest zu diesem versnobten Ambiente hier.«
»Mit Verlaub, ich habe mich momentan lediglich meiner Umgebung angepasst«, antwortete der Diener.
»Du roter Pinguin solltest besser aufpassen, dass deine eingebildete Nase nicht plötzlich denselben Farbstoff produziert, aus dem dein verstaubter roter Arbeitsanzug sein könnte. Gehört der Anzug eigentlich noch zur Erstausstattung aus dem Jahre 1750?«
Grachter winkte ab, ließ es gut sein. Ein Streit könnte ihm nur schaden.
»Bringen Sie mir einen Scotch. Aber einen Single Malt bitte, nicht so eine gepanschte Brühe.«
Der Diener begann, hinter dem Tresen zu werken. Nur einmal vor langer Zeit, als er Grachter die Tür geöffnet hatte, hatte er ihn gefragt, warum das immer so lange dauerte, bis man ihn einließ.
»Ein jeder, der hier um Einlass ersucht, der nicht zur erlauchten Familie gehört, soll sich zuerst bewusst werden, wo er sich befindet.« Seine Hand zeigte dabei nach oben. ZITADELLE DES ADELS – MDCCL stand unübersehbar oberhalb der massiven weißen doppelflügeligen Tür. »Das Bewusstsein über den Ort prägt das Wissen um die Ehre, die einem zuteilwird, wenn ihm hier der Einlass gewährt wird.«
Dieser armselige Diener hielt sich doch glatt für etwas Besseres, nur weil er dem Adel die Drinks servieren durfte. Grachter hatte ihn nie wieder irgendetwas gefragt.
Es schallte mit jedem Schritt durch den Raum, als Hermann August von Sengen zu Bachrum den Empfangsraum aus einem der hinteren Zimmer betrat.
»Herr Präsident«, grüßten die beiden Diener tief gebeugt, die er nicht eines Blickes würdigte.
Grachter war aufgestanden, als der Präsident zu ihm kam. »Chef«, grüßte er nur kurz. »Sie sehen ernst aus. Ist es wichtig?«
Herman August ergriff Grachters Arm und zog ihn wortlos mit sich. Die mächtige Holztür knarrte, als Herman August sie öffnete. Grachter verharrte unweigerlich einen Moment beim Anblick der monumentalen Bibliothek. Noch nie hatte er diesen Raum betreten. Die majestätische Stille des Saales ergriff ihn. Die quietschenden Schritte seines Chefs, des Präsidenten, ließen den massiven Parkettboden voller Ehrfurcht sprechen, sodass man ihm sein würdevolles Alter anmerkte.
»Grachter, es ist eilig und verdammt wichtig«, sagte der Präsident mit frostiger Stimme.
Wie immer, wenn Sie mich brauchen, fügte Grachter in Gedanken hinzu. »Na dann erzählen Sie mal«, sagte er.
Hermann August von Sengen zu Bachrum erzählte ihm von den beiden jungen Leuten, die ein unangenehmes Gespräch belauscht und vielleicht sogar mit ihrem Handy aufgenommen hatten.
»Ich habe Ihnen das Video zugespielt, das ich von den beiden aufgenommen habe. Wir haben keine Ahnung, wer sie sind. Aber von dem Mann habe ich ein Foto ausgedruckt, damit müssten wir ihn eigentlich identifizieren können.« Der Präsident reichte Grachter das Foto.
Grachter schaute es sich an und verstand nicht, wie man den Mann damit identifizieren können sollte. Er hielt seinem Chef das Foto fragend hin.
»Sein T-Shirt«, antwortete er. »Das Omega-Symbol darauf kam mir sehr bekannt vor. Aus meiner Zeit als Uni-Präsident weiß ich natürlich von diversen Gruppierungen an der Uni. Und bei dem Omegazeichen klingelte es bei mir. Ich habe bereits ein paar Telefonate geführt. Diese Gruppe gibt es nicht offiziell, also jedenfalls nicht mit Adresse und Telefonnummer. Sie rekrutieren sich aus den verschiedensten Bereichen der Naturwissenschaften.«
»Omega«, sagte Grachter leise. Er gab sich zuversichtlich. »Na, wenn sie ihr Logo auf ihrer Brust feilhalten, dann wird es ja wohl kein Geheimbund sein. Da sollte man sie finden können.«
Sein Chef reichte ihm das Foto.
»Okay. Was soll mit dem Typen geschehen, wenn ich ihn gefunden habe?« Grachter musste das fragen, er hasste vage Andeutungen.
»Sie müssen vor allem schnell sein. Ich muss unbedingt wissen, ob die Frau etwas von dem Gespräch aufgenommen hat. Wenn ja, dann gilt es festzustellen, ob sie die Dateien auf ihre Computer gespeichert haben oder noch schlimmer, ob sie die Informationen bereits an jemanden weiter gegeben haben, die Zeitung, das Radio … ach Grachter, Sie wissen, was ich meine.«
»Und wenn ich körperlich unfreundlich werden muss«, hakte er nach.
»Grachter, Sie bekommen von mir dreißigtausend Euro, wenn Sie das regeln. Haben Sie noch Fragen?«
Grachter stand auf und lief zur Tür. »Ich regle das.« Langsam, als könnte er der Tür wehtun, drückte er sie ins Schloss.
* * *
Jeglicher Versuch, mit einem Draht die Handschellen zu öffnen, war gescheitert. Lisa biss die Zähne zusammen, als Ryan ihr mit der Flex die Handschellen durchzutrennen versuchte. Immer wieder steckte sie ihre Hand in den Wassereimer, sobald Ryan eine Pause einlegte, damit die Handschellen wieder ordentlich abkühlen konnten, nachdem das Flexmonster sie zum Glühen gebracht hatte.
Lisas Stirn legte sich in Falten, als sie ihre Augen zusammenkniff. »Habt ihr an der Uni in euren Physiklaboren keine Laserschwerter oder so etwas Ähnliches?«, fragte sie und rieb ihr Handgelenk.
Ryan versuchte, sie auf seine Art bei Laune zu halten. »Come on, Schatz. Wir haben es gleich geschafft.« Gleich dauerte jedoch noch fast eine Stunde.
Lisa und Ryan saßen erschöpft mit Ryans Mutter auf der Terrasse. Geronimo schlabberte ausgiebig sein Wasser, das Ryan ihm hingestellt hatte.
»Was hattet ihr denn im Keller zu basteln?«, fragte Ryans Mutter. Ihre Sonnenbrille auf dem Gartentisch spiegelte die rote Abendsonne wider. Lisa sah zu Ryan rüber, gespannt darauf, was er ihr sagen würde.
»Ach, nichts Besonderes.«
Seine Mutter zog ungläubig ihre Augenbrauen hoch. »Wann fahrt ihr denn jetzt in den Urlaub?«, versuchte sie es mit einem anderen Thema.
»Wir können uns ja nicht einigen, wohin wir fahren wollen. Ryan will lieber nach London und ich möchte gerne nach Paris.« Lisa lachte. »Ich habe ihm extra ein T-Shirt anfertigen lassen, so eins, wo vorne Paris aufgedruckt ist und hinten London. Nur, damit er sich die Prioritäten besser einprägen kann.« Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss. »Aber er zieht es ja nicht einmal an.«
»Doch, ich werde es anziehen, wenn wir in London sind.«
»Na dann bin ich ja gespannt, aus welchem Land eure Urlaubskarte kommen wird.«
Lisa nahm Ryans Hand. »Ich habe den Bürgermeister mit seinem Vater beobachtet, in der Tiefgarage«, sagte sie plötzlich.
Ryan und seine Mutter schauten sie fragend an.
»Du meinst den Oberbürgermeister«, sagte Ryans Mutter.
»Ja, ist doch egal, was für ein Bürgermeister er ist. Er ist ein Bürgermeisterarsch, sonst nichts.«
Ryans Mutter nickte.
»Ich habe gehört, dass sie das Gutachten für das Naturcenter faken wollen. Jetzt sitze ich am längeren Hebel.« Lisa holte ihr Handy hervor, als Ryans Mutter plötzlich aufstand und ins Haus ging.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, aber sie hasst diese Adelsbrut noch mehr als du.«
Lisa schaute ihren Freund überrascht an.
Er schwieg, lauschte dem dumpfen Tuten, das von einem der Schiffe herüberdrang, die auf dem Kanal fuhren. »Ich werde es dir morgen in aller Ruhe erzählen. Jetzt bringe ich dich besser nach Hause.«
* * *
»Ryan, was bist du heute früh auf den Beinen.« Seine Mutter gähnte, als sie mit ihren Pantoffeln in die Küche schlurfte, wo er an der Kaffeemaschine hantierte.
»Hi, Mom. Ich fahre gleich zu Lisa. Wir sind heute verabredet.« Er zeigte auf die Kaffeemaschine. »Ich habe dir Kaffee vorbereitet.« Er schaute seine Mutter an. Sie war noch gar nicht hergerichtet.
»Was ist los, Mom?«, fragte er. Ihre Angespanntheit fiel ihm sofort auf. »Du wirkst so bekümmert.« Seine Mutter sah zur Seite. Er spürte, wie unangenehm es seiner Mutter war, darüber zu reden.
»Nun sag schon, Mom«, quengelte er fordernd. »Ist etwas passiert?« Sie schüttelte den Kopf, aber er konnte es sich auch so denken.
»Von und Zu?«, sagte er mehr feststellend als fragend. »Mom, warum tust du dir das an. Lass doch die alten Geschichten ruhen.«
»Ach, Ryan, es ist ja nicht nur die Von- und Zu-Sippschaft, es ist dein Vater. Ich muss immer an ihn denken.«
Er wusste nur zu gut, was seine Freundin gestern angerichtet hatte. Die bloße Erwähnung des Namens von Sengen zu Bachrum oder des Bürgermeisters, was immer sie auch verkörperten, reichte aus, um seine Mutter aus der Bahn zu werfen.
»Mom, ist alles okay?«
Sie stand auf und drückte ihn liebevoll. »Fahr nur zu deiner Freundin. Mir geht es gut. Ich gehe gleich in mein Atelier, ein wenig malen.«
* * *
Werner Grachter wollte keine Zeit verlieren. Punkt acht Uhr, für ihn früh am Morgen, wartete er am Eingang zum physikalischen Institut. Wie scheintot mussten sie ihn einstufen, sinnierte Grachter. Mit seinen vierundfünfzig Jahren fiel er hier auf wie ein Hund in einer Katzenpension. Und welche Katze wollte schon etwas mit Hunden zu tun haben? Da musste er sich etwas einfallen lassen.
Es dauerte nicht lange, da hatte er ein Opfer gefunden. »Hallo«, grüßte er freundlich. »Willst du dir zweihundert Euro verdienen?«
Der Student war schon fast an ihm vorbeigelaufen. Es war eher so etwas wie Höflichkeit, dass er sich überhaupt zu ihm umdrehte, wobei der Rest seines Körpers dennoch weiterzulaufen schien.
Grachter winkte mit zwei Hundertern.
»Worum geht es?«, fragte der Student jetzt doch interessiert.
»Omega«, sagte Grachter knapp. »Was weißt du über eine Studentengruppe, die Omega heißt oder die das Omegasymbol benutzt?«
»Wie viel sollte ich denn wissen, um die Zwillinge in Ihrer Hand zu bekommen?«
Mitleid macht gesprächig, wusste Grachter aus Erfahrung. »Ich bin Privatdetektiv und ich bin auf der Suche nach jemandem, der angeblich eine Studentin vergewaltigt hat. Nach Zeugenaussagen hatte er ein Omegazeichen auf seinem T-Shirt. Können deine Informationen mir helfen, zu der Organisation zu gelangen?«
»Ich weiß, wo diese Leute sich regelmäßig treffen. Es ist eine Kneipe. Wann genau, das sollten die Betreiber der Kneipe ja wohl wissen.«
Der Student streckte seine flache Hand aus. »Wäre Ihnen die Information des Namens der Kneipe die beiden Scheine wert?«
Grachter legte einen der beiden Hunderter in seine Hand.
»Was ist das für eine Gruppe, die Omegagruppe? Worum geht es da?« Grachter wedelte mit dem anderen Hunderter umher.
»Irgendwelche Weltverbesserer. Ein Zusammenschluss aus mehreren Fachrichtungen, die alle möglichen Forschungen diskutieren. Was weiß ich denn, was die genau machen.« Der Student griff nach dem Hunderter, erwischte aber nur Grachters geschlossene Hand.
»Den Namen«, sagte Grachter.
»Pulverturm«, sagte der Student und griff auch den letzten Hunderter. Er wandte sich ab und ging, als wäre nichts gewesen. Nur sein Gang wirkte irgendwie beschwingter.
Mühsam, dachte Grachter, aber er war einen Schritt weiter.
* * *
Grachter wartete geduldig im Schatten der Promenade. Von hier aus konnte er den Biergarten des Pulverturms mit den noch leeren Tischen gut übersehen. Die zahllosen Radfahrer und andere Spaziergänger nahmen ihn gar nicht wahr. Nur ein herrenloser Hund hob ausgerechnet hier, an seiner Bank, sein Bein.
Der Biergarten füllte sich bereits, obwohl das Lokal offensichtlich noch geschlossen war. Bei dem Wetter würden die Leute sicherlich alle zuerst in den Biergarten strömen, also beschloss er, durch die Vordertür in das Lokal zu gehen. Es redete sich leichter ohne Zuhörer. Da war es besser, rechtzeitig nach der Öffnung als einer der Ersten da zu sein.
Der Holzboden knarrte unter seinen Tritten, als er auf den Tresen zusteuerte. Es war niemand zu sehen. Musik aus dem Radio durchdrang den Raum. Aus einem der angrenzenden Räume hörte er typische Küchengeräusche, Gläser klirrten, Wasser lief. Er setzte sich auf einen der Barhocker und stützte seine Hände am Tresen ab.
»Hallo!«, grüßte ein junger Mann, als er den Raum betrat. »Wenn Sie möchten, können Sie auch draußen sitzen«, sagte er. »Der Biergarten ist jetzt geöffnet.« Er wischte sich seine Hände mit der weißen Schürze ab, die er umgebunden hatte.
»Nein, vielen Dank, ich bin nicht so ein Sonnenanbeter.« Grachter versuchte, freundlich zu sein. Die Chance, dass ein junger Mann, der in einer Kneipe kellnerte, in Münster ein Student war, war sicherlich sehr groß. Da könnte er die Omega-Leute womöglich kennen.
»Okay«, sagte der Mann. »Was darf ich Ihnen bringen?«
»Bringen Sie mir einfach eine Cola. Cola light bitte, wegen meiner immer stärker werdenden Bauchmuskulatur.« Grachter hielt demonstrativ seine Hände vor den Bauch und setzte ein karges Lächeln auf.
Mit routinierten Handgriffen nahm der Mann ein Glas, stellte es unter einen Zapfhahn und ließ die Cola einlaufen.
»Sind Sie Student?«, fragte Grachter.
Ein stummes Nicken folgte als Antwort.
Grachter versuchte, sich einzuschleimen. »Kommen Sie überhaupt richtig zum Lernen, wenn Sie hier so viel arbeiten müssen? Ich meine, ich habe ja nie studiert, aber gearbeitet, und ich stelle es mir echt hart vor, nach so einem Arbeitstag den Kopf noch zum Lernen freizubekommen.«
»Ja, da haben Sie wohl recht. Aber was soll ich machen? Ohne Moos nix los.«
»Ja, das liebe Geld. Heute braucht man ja auch alles Mögliche zum Studieren. Einen Computer, Software und was weiß ich nicht alles.«
»Studieren Sie etwas Technisches?« Er ging dem jungen Mann auf die Nerven. Er konnte es direkt fühlen. Jedes Wort musste er ihm aus der Nase ziehen.
»Nein, Wirtschaft.«
»Oh je«, sagte Grachter. »Dann müssen Sie nach Feierabend langweilige Buchführungen und so was büffeln. Da können Sie einem ja richtig leidtun.«
»Die Buchführung habe ich zum Glück hinter mir, aber der Rest ist auch nicht wirklich spannender. Steuern sind im Moment angesagt.«
Endlich hatte er ihn. Jetzt kam er so langsam in Fahrt. Als wäre er entsetzt, erwiderte Grachter mitfühlend: »Dann müssen Sie heute Abend bei dem Wetter um Mitternacht noch Steuern büffeln? Oder müssen Sie nicht so lange arbeiten?«
»Nein, nein. Ich mache um acht Uhr Feierabend, dann geht schon noch was.«
Grachter war mit sich zufrieden. Der junge Mann wirkte endlich etwas aufgetaut. Er hielt ihn jetzt reif für die Kernfrage: »Als Student, da kennen Sie ja vielleicht die Omegagruppe. Eine Gruppe von Studenten, die sich regelmäßig in dieser Kneipe trifft.« Grachter blieb nicht verborgen, wie der junge Mann kurz aufblickte und wieder zur Cola schaute, als wäre nichts gewesen.
»Omegagruppe?«, fragte er. »Es gibt so viele Studentengruppen«, sagte er. »Die kann man gar nicht alle kennen.« Der Kellner legte einen Bierdeckel auf den Tresen und stellte das Glas darauf. »Eine Cola light für Sie«.
»Ja, das stimmt schon«, antwortete Grachter. »Aber wenn die Gruppe sich hier regelmäßig trifft, dann könnten Sie sie ja möglicherweise kennen.«
»Ja, vielleicht. Kann ich im Moment nicht genau sagen. Was glauben Sie, was hier abends los ist.«
Grachter musterte den Typen. Einen kurzen Augenblick überlegte er, ob er es noch einmal mit der Mitleidstour versuchen sollte. Nein, bei dem Typen würde es nicht funktionieren. Er konnte auf seine Erfahrungen bauen. »Hören Sie, Sie würden mir einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie mich mit den Leuten in Kontakt bringen könnten.«
»Ach ja? Warum ist Ihnen das so wichtig?«
»Tja, für mich ist es mein Job und für die Omegas ein großer Erfolg. Ich bin Journalist. Ein Journalist erfährt immer mal das Eine oder Andere oder man bekommt ein paar wertvolle Informationen zugesteckt. Wie auch immer, diese Gruppe hatte wohl irgendeine glorreiche Idee, die bei Firmen und Politikern auf reges Interesse gestoßen ist.« Grachter wartete kurz ab, ob der Mann angebissen hatte.
»Sie meinen, da springt was raus für die Leute?«
»Da gehe ich mal fest von aus«, sagte Grachter. »Leider hat diese Gruppe keine feste Adresse. Ich habe zwar einen Kontakt bekommen, aber leider nur das Foto dieses Mannes.« Er kramte kurz in seiner Tasche und holte das Foto hervor, das er von seinem Chef bekommen hatte.
»Ja, das ist einer von ihnen«, sagte er.
»Kennen Sie seinen Namen?« Grachter wurde ungeduldig.
»Was ist das denn Phänomenales, das diese Gruppe so interessant macht?«
»Tja, junger Mann. Ich bin Journalist. Solche Leute schickt man, damit sie genau das herausfinden. Man spricht in diversen Politikerkreisen darüber, aber nur hinter vorgehaltener Hand. Also muss ich jetzt sehen, wie ich Konkretes in Erfahrung bringe.«
»Ich meine, der heißt Ryan Winter oder Reinhard Winter. So genau weiß ich das nicht mehr. Auf jeden Fall studiert er Physik.«
»Danke«, sagte Grachter. Er legte einen Zwanziger auf den Tresen und verschwand.
* * *
Auf dem Weg zu Lisa konnte Ryan nicht abschalten. Er lenkte sein Fahrrad nur schleppend vorwärts, als bremste ihn etwas aus. Er hatte keine Augen für die prachtvolle Promenade mit ihren Schatten spendenden majestätischen Bäumen, selbst den Aasee würdigte er keines Blickes. Ryan genoss normalerweise die Fahrt mit dem Fahrrad zu seiner Freundin. Heute jedoch musste er an seinen Vater denken.
Er schaffte es nicht, die düsteren Bilder seiner Beerdigung auszublenden. Sie kamen zu überraschend, als dass er sie zu verdrängen vermochte. Er versuchte, andere Bilder aus seinem Gedächtnis zu aktivieren. Es mangelte ihm nicht an Szenen. Wie sein Vater mit ihm im Garten spielte, wie sie am Kanal spazieren gingen und im Sonnenuntergang die Schiffe beobachteten, die gemächlich vorbei fuhren, sich vor der Schleuse stauten und hin und wieder angeberisch mit ihren dröhnenden Tuten prahlten. Aber immer öfter stellte er fest, wie schwer es ihm fiel, sich Details seines Gesichts in Erinnerung zu rufen. Er hatte Fotos von ihm auf sein Handy geladen, die er sich bei Gelegenheit ansah. Doch als ob er sein Gesicht nicht speichern konnte, sah er seinen Vater immer nur als Ganzes. Er war fünfzehn, als sein Vater starb. Wenn jetzt, nur zehn Jahre später, seine Erinnerungen zu verblassen begannen, würde sein Gedächtnis die Bilder seines Vaters irgendwann vielleicht gar nicht mehr freigeben? War er mit fünfzehn zu jung gewesen, als dass sich die Bilder dauerhaft in sein Gedächtnis hatten einprägen können? Es erzeugte ihm ein schlechtes Gewissen. Es brannte ihm auf der Seele, seine Mutter zu fragen, ob es ihr ähnlich erging, aber er traute sich nicht.
Der typische Geruch von Stallmist und Pferden ließ ihn auf andere Gedanken kommen. Ein paar abgestellte Pferdeanhänger parkten am Wegrand, er war am Reiterhof angekommen. Er freute sich auf Lisa, die ihn bestimmt auf andere Gedanken bringen würde. Er hielt direkt bei den Ställen, sie würde sicherlich dort sein.
Ein freudiges Wiehern, ein paar aufgeregte Hufe, die in den Stallungen lebhafte Hektik verbreiteten, ließen ihn eine andere Welt betreten. Seine düsteren Gedanken waren verflogen.
»Lisa!«, rief er.
»Ich bin bei Tommy.« Lisa lugte kurz aus der Pferdebox hervor und winkte ihm zu. Ihr Gesicht strahlte. Sie trat aus der Box und lehnte sich kess an die Wand. Ihre Blicke folgten Ryan, wie er den Gang entlang auf sie zu lief, als wäre es ein Schaulaufen.
»Hi, Schatz.« Ryan drückte sie an sich und genoss ihren Begrüßungskuss. »Ich freue mich, dich zu sehen.« Er drückte sie fest. »Und zu spüren«, fügte er frech hinzu, während seine Hände ihren Hintern umfassten.
Ein kräftiges Wiehern ließ ihm keine Wahl. »Du musst Tommy auch begrüßen«, stellte sie freudig fest.
Ausgiebig streifte er seine Hand tätschelnd über den Hals des Pferdes. »Tommy, du alter Casanova«, sagte er. »Du bist wohl eifersüchtig, was? Aber keine Sorge, sie wird dich nie verlassen, das weiß ich. Sie ist nämlich treu bis in den Tod, da kannst du vergiftetes Stroh drauf fressen.«
»Reiten wir noch ein wenig aus?«, fragte Lisa. »Tommy ist gestern nicht viel geritten worden. Er braucht seine Bewegung.«
»Okay, dann reitest du deinen Tommy und ich nehme den Teufel Lucas.«
»Er ist kein Teufel«, sagte sie.
»Doch, er hat mich schließlich einmal abgeworfen.«
»Du hast nicht fest genug im Sattel gesessen, das ist etwas anderes. Dafür kann Lucas nichts. Das ist, als wenn du nicht angeschnallt bist, wenn der Wagen bremst.«
»Klar, aber ich habe nicht gebremst. Er hat ohne Grund angehalten.«
Sie lachten beide.
* * *
Es war eine herrliche Abwechslung für ihn. Der Ausritt entlang der Aa tat ihm gut. Immer wieder holte Lisa zum Spurt aus und sie ritten um die Wette. Tommy schnaubte freudig. Er brauchte das. Ein Rappe in den besten Jahren.
Ryan beobachtete sie, wie sie vor ihm ritt. Ihr Körper federte mit jedem Schritt des Pferdes auf und ab. Die Sonne spiegelte sich in ihren blonden Haaren.
»Du wirst mich nie ganz alleine haben können«, hatte Lisa ihm gesagt, als sie sich kennengelernt hatten. »Du wirst mich immer mit Tommy teilen müssen. So oder gar nicht.« Sie hatte den ganzen Abend ein Geheimnis daraus gemacht, wer Tommy war.
»Du wolltest mir noch erzählen, weshalb deine Mutter den Bürgermeister so hasst«, sagte sie, als sie nach dem Ritt die Pferde versorgt hatten und zum Haus gingen.
Da streckten sie wieder ihre Fühler aus, die dunklen Gedanken an seinen Vater. »Später, in der Stadt«, antwortete er.
»Wir fahren in die Stadt?«, fragte sie. »Wohin?«
»Zum Zwinger, da erzähle ich dir alles.« Ryan spürte, wie sie ihn neugierig ansah.
* * *
Was um alles in der Welt wollte er ihr am Zwinger zeigen oder sagen? Erwartungsvoll fuhr Lisa neben Ryan auf dem Fahrrad die Promenade entlang. Dieser für Autos gesperrte Rad- und Fußweg führte entlang der ehemaligen Stadtmauer von Münster. Hier wimmelte es von Radfahrern. Sie mussten aufpassen, um nicht mit ihnen zu kollidieren. In Erwartung des Gefälles vor der nahenden Straßenunterführung steigerten sie ihr Tempo. Der Schwung für die unausweichlich kommende Steigung ergriff ihre Stimmung. Sie kreischten und pusteten bei den letzten ansteigenden Metern, doch Lisa konnte den versteinerten Blick ihres Freundes am Vortag nicht vergessen. Sie wusste nicht, was der Zwinger war oder einst gewesen war. Irgendetwas Geschichtliches, das wusste sie natürlich. Es hatte etwas mit der Stadtmauer zu tun, die Münster einst umgab. Sie fragte nicht. Schweigen schien ihr im Moment sinnvoller zu sein. Sie waren ja ohnehin gleich da.
Sie stellten ihre Fahrräder ab und Lisa ließ ihren Freund vorweggehen. Ihre Blicke hingen liebevoll an seinen braunen, von der Sonne gebleichten Haaren. Er war nicht groß, aber trotz seiner schlanken Figur kräftig gebaut. Sie fühlte sich geborgen bei ihm. Sie hatten viel Spaß zusammen. Aber jetzt spürte sie seine Besorgtheit. Irgendetwas bedrückte ihn.
Unverhofft rannte Ryan los, dicht entlang des wuchtig runden Steinbaus. Rötliche Klinkersteine waren zu meterdicken Wänden verbaut worden. Das Dach schien auf den ersten Blick zu fehlen. Er streckte seine Arme aus, drehte sich immer wieder im Kreis und fing an zu lachen. Sie rannte ihm hinterher.
»Spürst du ihn?«, rief er. Er streckte seine Arme auseinander und drückte sich an die voluminöse Steinwand des Bollwerks. »Spürst du ihn?«, fragte er immer wieder. Er rannte weiter, blieb wieder stehen und packte Lisa, die auf ihn zu gerannt kam und in sein Lachen eingefallen war. Er nutzte ihren Schwung und wirbelte sie umher, wobei er sie fest umschlossen hielt. Beschwingt ließ er sich ins Gras fallen und zog seine Freundin mit zu Boden. Seine Anspannung schien von ihm gewichen zu sein. Sie küssten sich und konnten kaum aufhören zu kichern. Die anderen Radfahrer, die es auf der angrenzenden Promenade so zahlreich gab, nahmen sie nicht wahr.
»Come on, spürst du ihn?«, fragte er sie erneut und tat geheimnisvoll.
»Wen soll ich spüren?«
»Den Geist der Zeit«, raunte er ihr zu, um eine Geisterstimmung anzudeuten. »Er treibt überall sein Unwesen, um die Geschichte auszulöschen. Er will die Vergangenheit unsichtbar machen.«
Sie zeigte auf das wie eine Festung wirkende Bollwerk. »Na, da ist er hier beim Auslöschen nicht sehr erfolgreich gewesen, der Geist der Zeit.«
»Ja, okay«, warf ihr Freund ein. »Es geht wohl mehr um die Geheimnisse der Vergangenheit, die möglichst geheim bleiben sollen.«
»Und du kennst ein Geheimnis aus der Vergangenheit.«.
»Ja! Meine Mutter hat es entdeckt. Es hat etwas mit dem Zwinger hier zu tun.«
»Erzähl, was hat es damit auf sich? Mach es nicht so spannend.«
»Ja, ist ja gut.« Sie legte ihren Kopf in seinen Schoß und lauschte den Worten ihres Freundes. »Mom hat, als sie noch an der Uni Geschichte lehrte, einen Beweis, eine Art Ausgabenbeleg gefunden. Dieser belegt Ausgaben für eine Adelsflucht am Zwinger. Meine Mutter vermutete eine Art unterirdischen Gang aus dem Zwinger heraus. Der Beleg stammt vom Anfang des 18. Jahrhunderts, aus Münster. Sie hat damals angefangen, hier am Zwinger nach dem unterirdischen Gang zu graben.«
»Was hat es denn mit dem Zwinger auf sich? Er war ein Befestigungsteil der Stadtmauer, das weiß ich schon. Aber ich kenne einen Zwinger sonst nur für Hunde, die man dort einsperrt.«
»Ja, dort wurden auch Leute eingesperrt, aber soviel ich weiß nur Schwerverbrecher. Die anderen Kriminellen kamen in ein benachbartes Zuchthaus, das heute nicht mehr existiert.«
Sie schwelgten beide in Gedanken, als sie den Zwinger musterten, bis sie sagte: »Muss so was wie ein Pendant zum Tower in London sein. Dort verschwanden ebenfalls üble Verbrecher, meist auf Nimmerwiedersehen.«
Er nickte leicht mit dem Kopf. »Ich glaube, ursprünglich war das Monstrum eine Festung als Teil der Stadtmauer. Aber irgendwas habe ich im Kopf, dass es auch als Festung gegen die Bürger gedacht gewesen sein könnte, falls die einmal eine Revolution planen würden. Damit hatten sie wohl vor, die Bürger zu bezwingen, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie sie das von dort anstellen wollten. Immerhin sitzt man da drin wie in einer Falle. Vielleicht kommt der Name daher? Ich weiß es auch nicht so genau.«
»Und weshalb ist das ein Geheimnis, wenn die Uni das alles weiß?«
»Jetzt wird es interessant«, sagte er. »Der Beleg ist verschwunden. Meine Mutter wurde wegen des Missbrauchs von Unigeldern gefeuert, obwohl das bisschen Buddeln, das sie eigenhändig mit ein paar Studenten durchgeführt hatte, kaum Geld gekostet haben dürfte. Die Aktion war mit der Stadt abgesprochen.« Mit ernster Miene und fast drohend wirkender Stimme ergänzte er: »Man unterstellte ihr Wahnvorstellungen und letztlich ist sie daraufhin in den Ruhestand versetzt worden, nachdem der Vater des Bürgermeisters, unser werter Uni-Präsident, Von und Zu, wie meine Mutter ihn nennt, sie persönlich vom Dienst beurlaubt hatte.«
»Wie, der Vater des Bürgermeisters war Uni-Präsident?«, fragte Lisa.
»Ja, das war er. Bis er die Bank seines Vaters erbte.«
Sie sprachen eine Weile kein Wort.
»Das war der Geist der Zeit, der den Beleg hat verschwinden lassen«, sagte Ryan plötzlich keck, die Stille unterbrechend. »Oder der Geist der Zeit war in den Uni-Präsidenten gefahren und beherrschte ihn«, sagte er und grinste dabei.
Lisa schaute ihn ungläubig an, als sie mit kritischer Stimme fragte: »Du glaubst, der Präsident hat den Beleg geklaut und deine Mutter absichtlich in den Ruhestand versetzen lassen?«
»Glaubst du eher an Geister?«, fragte er.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie verstand es nicht. Welchen Sinn sollte das machen?
Ryan stand auf. Er reichte ihr seine Hand und half ihr auf. »Jetzt weißt du, was mit meiner Mutter los ist.«
Sie nickte, obwohl sie es nicht glauben konnte. Was sollte der Alte damit zu tun haben? »Hätte sie nicht gegen die Zurruhesetzung klagen können oder gegen den Präsidenten? Ihr glaubt, es war der Präsident? Weshalb seid ihr so davon überzeugt? Gibt es Hinweise oder Beweise dafür?«
Ryan schüttelte den Kopf. »Meine Mutter ist davon überzeugt. Mir reicht das. Sie hatte so gut wie nie mit dem Präsidenten zu tun. Erst als sie das mit dem unterirdischen Gang herausgefunden hatte, da interessierte er sich plötzlich für ihr Projekt und kam immer wieder in ihr Büro.«
Sie wollte etwas sagen, aber sie spürte, dass Ryan noch nicht fertig war.
»Gegen die Zurruhesetzung hätte sie vielleicht klagen können.« Er schwieg eine Weile und schaute zu Boden. »Wahrscheinlich schon«, fuhr er fort. »Aber sie wollte nichts mehr damit zu tun haben. Der Präsident redete mit ihr. Er hatte sie auf unbestimmte Zeit beurlaubt und ihre Zurruhesetzung in die Wege geleitet. Das war zu viel für sie, da hatte sie meinen Vater angerufen. Der war sofort losgefahren, um sie von der Uni abzuholen. Sie war ja ziemlich fertig.« Er stockte und seine Stimme schien zu versagen. »Dort ist er nie angekommen. Er hatte unterwegs einen Autounfall.«
Jetzt war es Lisa, der die Stimme wegblieb. So erschien der tödliche Unfall seines Vaters in einem ganz anderen Licht. Sie nahm ihn in ihre Arme. Es gab nichts, was sie jetzt sagen konnte.
* * *
Ryans Mutter entspannte im Liegestuhl auf der Terrasse. Ein Buch lag auf ihrem Schoß. Ohne einen Blick auf Ryan zu werfen, sagte sie: »Hörst du, wie die Kinder von der Kanalbrücke springen?«
Der Kanal verlief nur kurz hinter ihrem Grundstück. »Ja«, sagte er, während er sich zu ihr setzte.
»Früher konnte ich von hier aus sehen, wie du mit deinem Vater ebenfalls in den Kanal gesprungen bist. Jetzt sind die Bäume zu sehr herangewachsen, sodass man die Brücke nicht mehr sehen kann.«
»Ja, ich kann mich noch gut daran erinnern«, sagte er. Und wie er sich daran erinnern konnte. Es war eine herrliche Zeit gewesen, seine Kinderzeit. Die schönste Zeit seines Lebens. Dass sie jetzt auch an seinen Vater dachte, wunderte ihn nicht. Es lag bestimmt an der Von- und Zu-Geschichte gestern, vermutete er.
»Mom, vergiss die Von- und Zu-Geschichte. Das ist passé, Vergangenheit. Wir leben heute und was geschehen ist, können wir nicht mehr ändern. Du solltest dein Leben davon nicht beeinflussen lassen.« Er schaute sie an und wusste doch, dass das Gerede bei ihr nicht fruchtete. Er fürchtete ständig eine Rückkehr ihrer Depressionen. Es war eine schwere Zeit für sie beide gewesen, als seine Mutter sich nach dem Tod seines Vaters zurückgezogen hatte. Er musste sich um alles kümmern, von einem Moment zum anderen war seine Kindheit vorbei. Er war so froh, als er vor ein paar Jahren erleben konnte, wie sie sich von ihrer Depression befreien konnte. Ja! Vor der Rückkehr ihrer Depressionen hatte er Angst.
»Geschichte ist Vergangenheit, das stimmt«, entgegnete sie. »Aber sie lebt, die Vergangenheit. Man kann sie fühlen, sehen – überall. Du musst nur die Augen aufmachen und sie ist da. Wenn du am Rathaus vorbei gehst, solltest du dich in den Innenhof stellen. Halte dort inne und du spürst, dass nicht nur die Leute, die du heute dort siehst, herumlaufen. Seit eh und je sind dort Menschen entlang gelaufen. Es waren Menschen, die die Gebäude erbaut haben. Es waren Tiere, die die Wagen mit den Baumaterialien zogen. Es waren Menschen, die wie wir gelebt und geliebt haben, die in den Kriegen der Vergangenheit gestorben sind …« Sie stockte und bemerkte, wie sein Gesichtsausdruck sich veränderte. Er wirkte erfreut, lächelte.
Ja, dachte er, das funktionierte immer. Die Geschichte war ihr Ding. Damit konnte er sie bereits das eine und andere Mal herausholen, heraus aus ihren düsteren Gedanken.
»Was ist los?«, fragte seine Mutter. »Worüber freust du dich so?«
»Nichts, Mom, alles okay.«
* * *
Der Rittersalon war der angemessene Raum für eine edle Runde im kleinen Kreis. Ein gut renoviertes Holzschwert mitsamt Holzarm zierte den Kamin oberhalb des Sims. Lange Zeit hing es als historisches Überbleibsel an der Rathauswand. Einst wurde es dort entwendet. Jetzt fristete es ein ehrenwertes Dasein in einer Umgebung, die nur Privilegierten zugänglich war.
»Karl! Würden Sie ein paar Fenster öffnen und für etwas Durchzug sorgen!« Es war keine Frage, die der Präsident ihm stellte. Ein Adeliger stellte dem Personal keine Fragen, er befahl ihnen. So war es schon immer. Er kannte es nicht anders. Der Salon war an diesem Sommertag nur mäßig besucht. Graf Burfelder und ein edler Besuch aus dem britischen Königshaus, Lord Greenwulf, der zurzeit in Münster residierte, waren seine Ehrengäste. Ein oberster Richter des Landgerichts, von Kallenberg, war mehr aus praktischen Erwägungen schon vor langer Zeit in den erlauchten Kreis aufgenommen worden. Seitdem kam er regelmäßig und nervte.
»Mein lieber Reichsfreiherr von Sengen zu Bachrum«, sagte Lord Greenwulf. »Ich habe mir sagen lassen, Sie haben sich den Titel Mr. President zugelegt.« Er hob sein Glas. »Darauf müssen wir unbedingt anstoßen.«
Der Präsident winkte ab. »Ach, den Titel mag ich eigentlich gar nicht. Aber ich werde ihn einfach nicht los. Er stammt aus der Zeit, als ich noch Präsident an der Universität in Münster war.«
Graf Burfelder hob ebenfalls sein Glas. »Ach mein Lieber, seien Sie nicht so bescheiden. Ehre, wem Ehre gebührt.«
»Ja, wenn man es so sieht«, der Präsident lachte und trank einen kräftigen Schluck vom edlen Berncasteler Doctor, einen 1893er-Wein, den er zu Ehren seines britischen Gastes öffnen ließ.
»Wo ist Ihr Sohn denn heute?«, fragte von Kallenberg.
»Ach, mein Sohn«, antwortete er verächtlich. »Erinnern Sie mich nicht daran. Der schlägt leider etwas aus der Art. Er bringt meine ganze Theorie über die genetische Evolution des Adels ins Wanken.« Der Präsident war aufgestanden und zeigte mit dem Glas Wein in der Hand auf das übergroße Porträt an der Wand. »Das«, sagte er. »Das waren noch Männer. Selbst nach seinem Tod macht ihm niemand den Beinamen der Große streitig, unserem Friedrich.« Der Präsident schüttelte den Kopf. »Wie soll mein Sohn da je mithalten können?«
»Was ist das für eine Theorie, Mr. President?«, fragte Lord Greenwulf. »Sollte ich sie kennen?«
Graf Burfelder schwang seine Hand ehrerbietend zum Präsidenten. »Ja, bitte erzählen Sie ihm Ihre Theorie. Eigentlich hätte ich vermutet, sie hätte sich bereits bis ins Königreich herumgesprochen, schließlich findet sie in den höchsten Kreisen Zustimmung und Anerkennung.«
»Ja gut, aber ich will es kurz machen und keinen langen Vortrag halten.« Der Präsident brachte sich in Pose.
»Wenn Sie die Geschichte Revue passieren lassen, welche Leute fallen Ihnen da ein? Ist es der Lehrer Müller oder der Arbeiter Schreiner oder etwa ein Bademeister, selbst wenn er sich Kaiser nennen sollte?«
Alle schüttelten sie den Kopf.
»Nein«, sagte er laut. »Es sind Leute wie er, Friedrich der Große«. Der Präsident zeigte erneut auf das riesige Wandbild. »Oder Napoleon, die englischen Könige, um auch unserem britischen Freund hier Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und nicht zu vergessen Männer wie wir. Verehrter Lord, in der wievielten Generation tragen Sie nun schon die Last und die Ehre Ihres Titels? Was glauben Sie, weshalb Ihr ehrenwerter Vorfahre, der Erste in Ihrer langen Ahnenreihe, dem dieser Titel angediehen wurde, ihn erhalten hat? Doch sicher nicht, weil er Brot gebacken hat, einen Stuhl geschreinert hat oder weil er irgendwelche Kinder beim Baden beaufsichtigt hat.«
Beiläufig drehte der Präsident den antiken Globus, der einen ebenso antiken Tisch zierte. »Nein, gewiss nicht! Es waren ruhmreiche Taten, Heldentaten, die dem Land und der Welt zugutekamen. Immer war es jemand, der mit seinen Taten Aufsehen erregte, Menschen rettete, ob im Kampf oder im Geiste, das ist hierbei nur eine unbedeutende Detailfrage. Alleine meine Ahnenreihe erstreckt sich über mehrere Jahrhunderte und immer dienten wir tapfer und selbstlos unserem Land, wenn es darauf ankam. Auf den Adel konnte man sich stets verlassen! Das wussten die Herrscher und Könige damals schon, sie spürten es, weil sie es auch hatten. Ich rede hier vom Helden- oder Tapferkeits-Gen, ich nenne es kurz Adels-Gen, das trifft es einfach besser. Und letztlich, soweit die Kernaussage meiner Theorie über die genetische Evolution des Adels, vererbt sich dieses Adels-Gen, weshalb wir auch alle auf eine lange Tradition heldenhafter Vorfahren zurückblicken können.«
Alle waren sie aufgestanden. Ihr lautes Klatschen passte nicht zu dem altertümlich gehaltenen Rittersalon, erschien dem begeisterten Publikum jedoch als eine selbstverständliche Notwendigkeit der Ehrerbietung.
»Mr. President, das ist eine geniale Theorie. Sie ist so einleuchtend, man möchte Wetten darauf abschließen, dass dieses Adels-Gen eines Tages gefunden wird.« Lord Greenwulf lief zur eigenen Bestätigung aufgeregt zu dem Bild Friedrich des Großen und prostete ihm mit seinem Glas zu.
»Ja sicherlich wird man ein solches Gen eines Tages finden können, vielleicht ist es kein einzelnes Gen, möglicherweise eine genetische Struktur, ein Segment mehrerer Gene, aber was spielt das letztlich für eine Rolle? Was das Adels-Gen bewirkt, das ist wichtig. Unser aller lange Ahnenreihe ist mir Beweis genug.« Der Präsident hob sein Glas.
»Ja«, sagte von Kallenberg. »Mit der Indizienlage können Sie jedes Gericht der Welt überzeugen. Zum Wohle, verehrte Adelige.«
Es knarrte unpassend, als die wuchtige Tür sich öffnete.
»Herr Präsident, Sie haben Besuch.« Der Diener verneigte sich tief vor den erlauchten Gästen.
»Doch nicht jetzt. Gehen Sie.«
»Es ist Ihr persönlicher Adjutant. Es sehr wichtig, soll ich Ihnen ausrichten.«
»Meine Herren, ich glaube, Sie müssen mich doch kurz entschuldigen.«
Der Präsident eilte in den Empfangsraum. »Grachter, was gibt es so Wichtiges? Haben Sie bereits Resultate?«
Grachter stand sofort auf. »Ich habe zwei mögliche Namen. Ryan oder Reinhard Winter, so soll der Student heißen. Er studiert Physik. Leider gibt es verdammt viele Winter in Münster, weshalb ich mich bei Ihnen melde. Sie sagten ja, es wäre eilig. Offensichtlich steht der Mann nicht selbst im Telefonbuch. Wahrscheinlich stehen dort nur seine Eltern. Jedenfalls würde es eine Weile dauern, alle möglichen Winter in Münster zu checken, und schließlich kann er ja auch in einem der Nachbarorte wohnen.«
Der Präsident nickte. »Was schlagen Sie vor?«
»Ich hatte auf Ihre Hilfe gehofft. Ihre Beziehungen zur Polizei und den Ämtern reichen doch bis weit nach oben. Das würde die Sache erheblich beschleunigen.« Grachter wartete auf eine Antwort.
»Okay, ich werde einen Termin für Sie bei einem vertrauten Polizisten organisieren. Dann können Sie das direkt mit ihm …«
Grachter fiel ihm ins Wort. »Auf keinen Fall, das wird nicht funktionieren, Chef. Sie wissen doch, wie die mich hassen. Seit die mir die Detektivlizenz entzogen haben, brauche ich mich da nirgends mehr sehen zu lassen. Den einzigen Gefallen, den die mir tun, ist der, dass sie mir ihre Dienstwaffe leihen, wenn ich mich umbringen will.«
»Ja, gut. Werde ich das eben in die Hand nehmen.« Im Weggehen sagte er noch: »Ich melde mich bei Ihnen.«
»Alles muss man selber machen«, fluchte der Präsident vor sich hin, als er den Rittersalon wieder betrat. Er gesellte sich wieder zu den Herren, die sich vor dem riesigen Porträt angeregt unterhielten. »Bitte entschuldigen Sie die Störung. Es ist mir wirklich unangenehm, aber manche Sachen muss man einfach selber machen.«
»Mein lieber Richter von Kallenberg, Sie haben ja kaum noch etwas in Ihrem Glas.« Der Präsident nahm ihn beiseite. Er griff nach dem angebrochenen Berncasteler Doctor und schenkte dem Richter ein.
»Sagen Sie, verehrter von Kallenberg, darf ich Sie um einen Gefallen bitten?« Er nahm den Richter am Arm und führte ihn etwas näher zu den Fenstern, weg von den anderen. »Es ist privat«, sagte er.
»Aber jederzeit doch, Herr Präsident. Selbstverständlich.« Von Kallenberg strahlte überglücklich. »Worum geht es denn?«
»Es ist eigentlich ganz einfach. Ich suche einen Studenten, der hier in Münster Physik studiert. R. Winter heißt er. Mehr weiß ich leider nicht über ihn. Ich würde ja meine eigenen Leute damit beauftragen, aber die Zeit eilt und da ist das Personal dann doch nicht so gut zu gebrauchen. Sie wissen ja, denen fehlt das Adels-Gen, ha ha ha. Deshalb komme ich auf Sie zurück. Sie haben doch bestimmt Kontakte zur Uni. In Ihrem Amt reicht sicherlich schon ein Anruf. Ich könnte ja selbst, als ehemaliger Präsident, Sie wissen schon. Aber das sieht so nach Schnüffelei und Amtsmissbrauch aus. Das hinterlässt einen unangenehmen Eindruck.«
»Keine große Sache, Herr Präsident. Ich werde mich gleich morgen darum kümmern.«
* * *
»Ryan, musst du heute nicht zur Uni?«, fragte seine Mutter, als er ihr Atelier betrat.
»Nein Mom, es sind Ferien, da habe ich nur montags ein Praktikum.« Ryan stand neben ihr und betrachtete die Leinwand, die seine Mutter bemalte. »Was malst du da? Hast du ein neues Bild angefangen?«
…
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