- Inspiration durch einen Fernsehfilm am Abend. Reicht das? Kann man was daraus machen?
- Ein Artikel in der Tageszeitung, bei dem man sich über korrupte und unfähige Politiker aufregt. Ist da eine Story drin?
- Dubiose Machenschaften von Firmen, die an die Öffentlichkeit gelangen. Vielfach erprobt.
- Ein persönliches Erlebnis, vielleicht die Erkenntnis, dass die eigenen Geschwister als Verbrecher entlarvt werden, sobald es ums Erben geht.
- Ein tragisches Ereignis, das einem nahe geht. Mit ein paar Varianten vielleicht? Lauert da eine Story?
- Ein Ereignis, dem Sie eine gewisse Ironie nicht absprechen. Wäre das eine Grundlage für eine Komödie?
- Eine Szene im Café: Ein junges Liebespaar streitet sich und sitzt am Ende des Kaffees doch wieder Hand in Hand beieinander. Eine Liebesgeschichte vielleicht?
- …
Es gibt viele Themen, die eine Geschichte wert sind. Fast alle haben sie bereits ihren Weg in die Literatur gefunden, sind bereits erzählt, weil es das Leben ist, das solche Geschichten schreibt. Welche Liebesgeschichte wurde noch nicht erzählt, wurde noch nicht etliche Millionen Mal auf Buchseiten verewigt? Je realer eine Geschichte tendenziell ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie bereits jemand niedergeschrieben hat.
Doch warum rühren uns dann solche Geschichten des Lebens zu Tränen, immer und immer wieder? Warum lassen sie uns die Luft anhalten, wenn wir die Buchseiten umblättern, um zu erfahren, wie es weiter geht? Tun sie es automatisch? Bergen solche Geschichten einen Automatismus, der den Leser die Buchseiten wissensdurstig umblättern lässt?
Mitnichten! Solche Lebensgeschichten lesen Sie mehr oder weniger dauernd in der Tageszeitung. Doch packt Sie ein Bericht in der Zeitung gleichermaßen wie das Lesen eines Romans? Nicht im Entferntesten! Es muss also einen Mehrwert geben, ein Add-on, ein schriftstellerisches Plus, das einen Roman von einem Zeitungsbericht unterscheidet. Etwas, das dem Leser eine Rechtfertigung dafür liefert, einen Roman einer Tageszeitung vorzuziehen und sogar dafür zu bezahlen. Natürlich kostet eine Zeitung ebenfalls Geld und sie hat im Vergleich zum Roman lediglich einen reinen Informationszweck, anders eben als ein Roman.
Ob die Geschichte 10.0000 B.C. spielt (von Roland Emmerich) oder, ob sie im Jahre 802.701 spielt (Die Zeitmaschine im Roman von H.G Wells), ist dabei vollkommen egal. Es sind Geschichten des Lebens, des menschlichen Lebens, die sich so oder ähnlich immer wiederholen. Doch was macht diese Geschichten aus? Was macht sie kaufens- und lesenswert?
Es ist kein Geheimnis. Sie entführen den Leser in eine andere Welt. Bereits mit dem ersten Satz eines Romans betritt der Leser eine andere Welt. Liest er weiter, begibt er sich auf einen besonderen Trip. Er lässt sich auf ein Abenteuer ein, lernt neue Freunde kennen, Figuren, denen er Seite für Seite beisteht auf ihren Abenteuern. Figuren, die ihr Innerstes offenbaren, die getrieben sind vom Schicksal, vom Bösewicht, von der Liebe, von ihren Gefühlen, von den Stolpersteinen des Lebens, … Und der Leser fühlt mit, leidet mit, denkt mit, erschreckt sich, wenn sein Held sich erschreckt, ist den Tränen nahe, wenn der Held wieder einmal ganz unten ist und es noch tiefer abwärtszugehen droht.
Diese Welt, in die sich der Leser begibt, das ist es, wo der Leser sein möchte. Eine Flucht aus der banalen Realität einer Kaufhausangestellten, eines Lagerarbeiters, eines Ingenieurs, einer Firmenchefin, eine Art Urlaub des Geistes, eine Abenteuerwelt, in die der Autor den Leser mitnehmen oder besser gesagt, entführen soll. Ob für eine halbe Stunde in der U-Bahn, am Strand, im Café, im Bett vor dem Einschlafen oder auf dem Sofa.
Solche Geschichten müssen sich aber erst einmal aus den Gehirnwindungen des Autors befreien, um ihren Weg auf die Buchseiten zu bahnen. Doch wie macht man das?
Der König ist tot. Es lebe der König!
Wie viele Geschichten haben Autoren dieser simplen Überschrift schon gewidmet? Und alle sind sie anders.
Klaus und Manuela heiraten! Sonntag, 11 Uhr in der Marienkirche.
Stoff für Abermillionen von Liebesgeschichten und/oder Dramen.
Die fertigen Buchseiten zeigen stets nur das Ergebnis dessen, was der Autor zu Papier gebracht hat. Sie zeigen zum Beispiel eine einzelne Szene, in der die Figur X stirbt. Sie zeigen nicht die vierunddreißig Todesszenen, die sich alternativ im Kopf des Autors abgespielt haben. Das Buch zeigt nur eine oder ein paar Szenen, in denen der Held dem Tod ausgesetzt ist. Der Autor erlebt die Angst um die Figur vielleicht fünfundfünfzig Mal in ganz verschieden, möglichen Szenen und kommt seiner Figur damit immer näher, bis er schließlich bei einer Geburtstagsfeier offline vor sich hinstarrt und mit seinem Helden mitleidet und seine Ehefrau ihn nur mit einem kräftigen Stups ihres Ellenbogens aus seiner Welt herausholen kann.
Die eigentliche Arbeit jedoch, das grundsätzliche Vermögen des Autors, offenbart sich jedoch in ganz banalen Dingen. Ob der Autor eine Wendung durch die Geschicke des Helden, durch Glück und Zufall oder durch eine glückliche Laune der Natur herbeiführt, ist etwas, das der Leser reflektieren kann, das er dem Autor als Plus oder Minus verbuchen wird. Die Buchseiten zeigen dem Leser also auch all das auf, was der Autor kann oder nicht zu schaffen vermocht hat. Viel ist es oftmals schon, wenn der Leser das Buch bis zum ENDE gelesen hat, doch letztlich ist es nur das Mindeste, das der Autor leisten können muss. Damit ist noch kein Preis gewonnen, noch kein Stern erobert, noch keine Leserträne vergossen, noch kein Leser zum Kauf des Folgeromans überzeugt.
Jetzt, mit diesem Wissen in der Hinterhand, werden Projekte eines Autors fassbarer, wenn auch zugleich komplexer und entsprechend unüberschaubarer. Fantasy, Recherche und Gedankenspiele machen den Großteil eines Autorenalltags aus und das oftmals über einen langen Zeitraum, lange sogar, bevor auch nur eine Zeile getippt wird.
Wohin die Reise letztlich geht, wie immer die Geschichte auch ausgehen mag, nur eines ist sicher: Sie endet stets mit dem ENDE.